Manuel Vogel
· 08.05.2021
Wingen, Kiten, Windsurfen – Balz Müller macht alles auf höchstem Niveau. Im Interview spricht er über Contest-Stress zum Quadrat, Produktentwicklung im Zeitraffer und die Angst, aufs falsche Pferd zu setzen.
Balz, es rauscht im Hintergrund. Wo erwischen wir dich gerade?
Ich stehe hier gerade an meinem Homespot, dem Urnersee in der Schweiz. So wie’s aussieht, wird’s ein guter Tag, die Thermik setzt schon ein. Aber in Zeiten wie diesen muss man früh da sein, sonst ist hier alles voll – und das, obwohl vor ein paar Tagen noch Schnee lag. Ich habe das Gefühl, Corona war der Brandbeschleuniger fürs Wingsurfen, aber auch für andere Wassersportarten. Seit Beginn der Pandemie platzen unsere Spots aus allen Nähten. Vor kurzen hatten wir hier Föhnsturm, da war es noch richtig kalt am See. Es waren 200 Leute auf dem Wasser. Es war im April schon so voll, wie sonst im Hochsommer.
Viele Wassersportler entdecken gerade den Reiz der Heimat, oder?
Absolut. Das Tolle ist, dass durch das Wingsurfen viele Binnen- und Leichtwindspots wieder interessant geworden sind. Spots an denen es zum Kiten oder Windsurfen meist nicht so toll war. Da schlummert riesiges Potential. Kein Mensch muss mehr nach Maui. Maui ist jetzt überall (lacht)!
Wie sieht bei euch in der Schweiz das Verhältnis der Sportarten aus? Läuft Wingsurfen gerade allen anderen Sportarten den Rang ab?
Wingsurfen boomt, keine Frage. An vielen Spots wird bei uns aber immer noch gewindsurft, zum Kiten ist es hier sowieso schwierig, es gibt viele Verbote und Probleme. Besonders aus diesem Lager fangen viele an zu Wingen – du brauchst keine Leinen und musst nicht vom Wasser aus starten. Ich kenne viele Kiter, die seit einem Jahr keinen Kite mehr angefasst haben.
Corona war fürs Wingsurfen wie ein Brandbeschleuniger
Du kitest, bist seit vielen Jahren Windsurf-Pro und fährst auch im Wingfoil World Cup aufs Podium. Mal Hand aufs Herz: Wie sind deine persönlichen Prioritäten?
Ich kann’s nicht konkret sagen. Wingsurfen entwickelt sich gerade natürlich rapide, das ist sehr faszinierend. Ich lerne jeden Tag was Neues und man leistet irgendwie Pionierarbeit. Erstaunlicherweise bedeutet das aber nicht, dass ich keine Lust mehr auf die anderen Sportarten hätte – im Gegenteil. Die Sucht nach guten Windsurfbedingungen ist bei mir eher größer geworden. Wenn’s dann klappt, ist das umso besser. Aber bei mäßigen Bedingungen geh’ ich aktuell eher Wingen, manchmal auch Windsurf-Foilen. Ich entscheide nach Lust und Laune. Ich sage immer: Wenn du fliegen willst, musst du Kiten. Wenn du Sliden willst und den Biss hast, ein Jahr lang an einem neuen Move zu trainieren, geh Windsurfen! Und wenn du einfach bei wenig wind viel Spaß haben willst, geh Wingen! Ein perfekter Tag sieht bei mir so aus: Morgens Wingen, dann Freestyle-Windsurfen und am Abend ein bisschen Auskiten. Hauptsache auf dem Wasser! Fest steht aber: Seit ich winge, bin ich doppelt oder dreimal so viel auf dem Wasser wie früher.
Das wären dann ja jetzt 600 Tage im Jahr...
(Lacht) Nicht ganz! Aber es sind ziemlich viele!
Du bist stark involviert in die Materialentwicklung deiner Sponsoren. Was sind dabei die Herausforderungen?
Die Foil-Entwicklung ist schon weit fortgeschritten, weil es viel Erfahrung aus anderen Sportarten gibt. Bei den Wings gibt’s auf dem Markt noch viele Kinderkrankheiten. Was heute aktuell ist, ist in wenigen Monaten schon wieder überholt.
Das dürfte Wing-Einsteiger nicht gerade motivieren, sich Material zuzulegen...
(Lacht) Stimmt. Was ich sagen wollte, ist, dass die Entwicklungssprünge derzeit bei den Wings noch sehr groß sind. Andererseits muss man sagen, dass man mit den meisten Wings auf dem Markt absolut Spaß haben kann. Es gibt also keinen Grund, mit dem Materialkauf zu warten. Aber schon jetzt zeichnet sich ab, dass es eine Spezialisierung der Produkte geben wird, so wie in anderen Sportarten üblich. Ich sehe das etwas kritisch, denn mein Motto ist “keep it simple!”. Derzeit genieße ich es, mit ein und demselben Wing alle Bereiche des Wingsurfens abdecken zu können, egal ob Welle, Freeride oder Freestyle.
Welche Unterschiede kristallisieren sich bei den Wings gerade heraus?
Aktuell haben die meisten Marken erstmal Allrounder im Programm, Wings zum Freeriden. Diese sollen viel Power haben, schön direkt wirken und sich beim Rotieren kompakt anfühlen. Ich denke, die meisten Schirme auf dem Markt sind sowohl gute Freeride- als auch Freestyleschirme, denn die Anforderungen sind sehr ähnlich.
Nutzt du selbst den gleichen Wing für Freeride, Freestyle und Welle?
Ja, das geht in meinen Augen gut. Ein Wing für alle Disziplinen, ein Board, zwei Foils – ich genieße das. Das geht so lange gut, bis die Racing-Disziplinen richtig ins Rollen kommen.
Plötzlich gibt’s Wings für Welle, Freestyle und bald auch Race. Ich bin eher Fan davon, es einfach zu halten
Bei den GWA World Cups fahrt ihr zwei Disziplinen – Freestyle und Race. Wie wird sich die Race-Disziplin in deinen Augen in naher Zukunft entwickeln?
Schon jetzt ist bei der Tour der Global Wingsports Association (GWA) absehbar, dass sich Racing rapide weiterentwickeln wird. Natürlich wird hier bald spezielles Material am Start sein und wer vorne dabei sein will, muss aufrüsten. Am Gardasee hab’ ich mal bei einem Rennen einen Downwindkurs mit einem high aspect Windsurf-Foil gewonnen. Nach vier Bojen hatte ich zwei Schläge Vorsprung. Das zeigt, wie groß die Materialunterschiede sind. Meiner Meinung nach schießt sich die Industrie mit der Spezialisierung aber ins eigene Bein. Eigentlich ist Wingen jetzt gerade für viele faszinierend, weil es so simpel ist: Ein Brett, ein Foil, ein Wing – damit deckt man fast alles ab.
Stichwort “Spezialisierung”: Du bist nach wie vor Freestyle-Pro auf der PWA-Tour der Windsurfer, hast aber auch auf der GWA Wingfoil Tour realistische Chancen, dir den WM-Titel zu sichern. Wie lange kann man beides auf höchstem Niveau machen, ohne den Anschluss zu verlieren?
Ich bin in Seenot! Im April stand ich schon vor der Entscheidung, entweder zum Tourstopp der European Freestyle Pro Tour (EFPT) am Neusiedler See zu fahren, oder zum GWA Wingfoil World Cup nach Leucate zu düsen. Am Ende bin ich nach Leucate. Trotzdem ist mein Plan für 2021, zumindest alle Windsurf World Cups mitzufahren. Wir werden sehen, wo die Reise hingeht, aber es wird schwierig, dauerhaft beides auf höchsten Niveau zu fahren. Die Freestyle-Disziplin beim Wingsurfen explodiert gerade: Jeden Tag neue Tricks, neue Athleten, alles wie im Zeitraffer. Mir persönlich hilft natürlich, dass ich viele Tricks vom Kiten oder Windsurfen einbringen kann. Man hat andauernd Deja-vus. Wingsurfen ist wie ein großer Reset-Knopf, alle fangen wieder bei Null an, deswegen kommen such so viele Kite- und Windsurf-Pros gerade dazu.
Im World Cup gehören mittlerweile Front- und Backflips schon zum Programm. Wie gefährlich ist Freestyle-Wingsurfen deiner Ansicht nach?
Wingsurfen ist nicht ungefährlich, denn das Foil ist nunmal scharf. Es ist auch völlig egal, ob man eine Halse lernt oder einen Backflip, das Risiko, sich zu verletzen, besteht immer. Mein Motto ist: “Der schlaue Kopf schützt sich”. Wenn ich die Kontrolle verliere und stürze, weiß ich, dass mein Kopf vom Helm geschützt wird. Also hab ich die Arme frei, um auf andere Körperstellen aufzupassen.
Danke Balz für das Gespräch und viel Spaß gleich auf dem Wasser!
Hier gibt’s einen Clip vom World Cup in Leucate, den Balz auf Platz 2 beenden konnte: